Das tote Baby begann plötzlich zu
weinen
13. Oktober 1988
Eine unverzeihliche Fehldiagnose der Ärzte im Kreißsaal hätte dem kleinen
André beinahe das leben gekostet.
Er spielt gern mit Bauklötzen und seiner Holzeisenbahn, liebt sein
Schaukelpferd über alles und geht abends nie ohne seinen kuscheligen
Schmuse-Teddy ins Bett. Ganz gleich, ob er sich Zuhause in seinem
Kinderzimmer mit den Sachen aus der großen Spielzeugkiste vergnügt oder
mit den Kindern aus der Nachbarschaft draußen herumtollt, der kleine André
scheint sich in nichts von den anderen Jungen in seinem Alter zu unterscheiden.
Wie die meisten dreijährigen ist er ein wahres Energiebündel und kann garnicht
genug davon bekommen, all die interessanten Dinge dieser Welt auf eigene
Faust zu entdecken.
Dabei grenzt es an ein Wunder, dass der Junge mit den dunkelblonden Haaren
die skandalösen Vorfälle, zu denen es während seiner Geburt im Kreißsaal
kam, überstanden hat. Denn eine unverzeihliche Fehldiagnose der Mediziner
hätte ihn beinahe das leben gekostet. Nur weil er plötzlich zuckte und leise zu
wimmern begann, bemerkte der verantwortliche Gynäkologe, dass das Baby,
dass er zweieinhalb Stunden zuvor für tot erklärt hatte, lebte!
Die Protokolle dessen, was sich an jedem Donnerstag im März auf der
Entbindungsstation der Frauenklinik ereignete, lesen sich wie eine
Horrorgeschichte. Es sind Dokumente unfassbaren Versagens, das nur durch
glückliche Zufälle nicht zur Katastrophe führte. Zu diesem Ergebnis kommt
zumindest der Gutachter, den Andrés Eltern inzwischen eingeschaltet haben.
Das Drama begann, als Margarete Le Guillarme zwei Tage vor der Geburt ihres
ersten Kindes zu dem Frauenarzt ging. "Bei mir hatten damals vorzeitig die
Wehen eingesetzt, und ich fürchtete eine Frühgeburt, weil ich doch erst in der
36. Schwangerschaftswoche war", erzählt die heute 33 Jahre alte Hausfrau aus
dem Städtchen Alzenau bei Aschaffenburg. "Und das Untersuchungs-Ergebnis
bestätigte meinen Verdacht: Mein Muttermund war bereits geöffnet; jeden
Augenblick konnte die Fruchtblase platzen. Deshalb wies der Doktor mich sofort
in die Klinik ein."
Dort glaubte sich die junge Frau in besten Händen. Schließlich gilt die
Entbindungsstation des Krankenhauses sowohl der hervorragenden
technischen Ausrüstung als auch der erfahrenen Hebammen und Mediziner
wegen als einer der besten in der ganzen Region.
Warum aber zwei Tage später in dieser Klinik passierte, was nie hätte passieren
dürfen, wird das Gericht in dem von Andrés Eltern angesträngten Verfahren
klären müssen. Fest steht bisher nur, dass sich das Unheil anbahnte, als
Margarete Le Guillarme am Donnerstag vormittag gegen halb zwölf einen
vorzeitigen Blasensprung erlitt. Eine in der Geburtshilfe eher harmlose
Komplikation, die das Team im Kreißsaal zunächst auch sicher in den griff
bekam.
Dennoch geriet der Routinefall eine dreiviertel Stunde später zur medizinischen
Katastrophe. Im Geburtsverlaufsbericht sind die dramatischen Ereignisse
minutiös dokumentiert; Um 12.16, so steht es dort schwarz auf weiß, stellte
die Hebamme bei Margarete Le Guillarme einen Nabelschnurvorfall fest
und alarmierte den Arzt, der angeblich sofort alles für einen Kaiserschnitt
vorbereitete. Denn es bestand die Gefahr, dass die Nabelschnur eingeklemmt
und das Baby im Mutterleib nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt
werden könnte.
Statt den rettenden Eingriff vorzunehmen, ließ der Gynäkologe jedoch wertvolle
Zeit verstreichen. Schlimmer noch: als um 12.20 Uhr keine Herztöne des
Babys mehr zu hören waren, fällte er jene Entscheidung, die der Gutachter als
unentschuldbaren Diagnosefehler bezeichnete: Er erklärte das Ungeborene für
tot!
"Niemand kann nachempfinden was ich gefühlt habe, als ich erfuhr, dass das
Kind in meinem Bauch gestorben sei", sagt Margarete Le Guillarme verbittert.
"Das schlimmste aber war, dass der Doktor einen Kaiserschnitt ablehnte und
darauf bestand, dass ich das tote Baby auf natürlichem weg zur Welt bringe. Es
war ein unvorstellbarer Albtraum."
Die junge Frau musste noch zwei unerträglich lange, qualvolle Stunden
durchleiden, ehe ihr Sohn um 14.25 Uhr geboren wurde. Völlig schlaff, ohne
Herzaktion und Atmung, wie es im Protokoll heißt. Doch Augenblicke später
erkannten die Ärzte ihren skandalösen Irrtum. Denn das vermeintlich tote Baby
zuckte plötzlich und begann nach ersten Wiederbelebungsversuchen leise zu
weinen.
Vier Wochen lang musste der kleine André danach noch auf der Intensivstation
einer Kinderklinik behandelt werden. Dann durfte er endlich nach hause.
Obwohl der inzwischen dreieinhalb Jahre alte Junge die unglaublichen Vorfälle
scheinbar unbeschadet überstanden hat, ist die Furcht der Eltern vor möglichen
Spätfolgen dennoch geblieben.
"Deshalb haben wir uns auch entschlossen, gegen die verantwortlichen
Mediziner, die bis heute alle Schuld von such weisen, zu klagen". Erklärt die
Mutter. "Denn der Schock, der mir durch die falsche Todesnachricht zugefügt
wurde, ist mit Geld ohnehin kaum wiedergutzumachen." -Jürgen Struck-
Knapp vier Wochen lang musste André auf der Neugeborenen-Intensivstation
[Bild 3] behandelt werden ehe er heim zur Mama durfte [Bild 4]